KreativWerkstatt

- Alltagssplitter - Neue Geschichten zu alten Themen

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Herbsttag

 

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren laß die Winde los.

 

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

 

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

 

Rainer Maria Rilke

Versuch es

 

Stell dich mitten in den Regen,

glaub an seinen Tropfensegen

spinn dich in das Rauschen ein

und versuche gut zu sein.

 

Stell dich mitten in den Wind,

Glaub an ihn und sei ein Kind -

lass den Sturm in dich hinein

und versuche gut zu sein.

 

Stell dich mitten in das Feuer,

liebe dieses Ungeheuer

in des Herzens rotem Wein -

und versuche gut zu sein!

 

Wolfgang Borchert


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Eigentlich wollte ich bloß Hefe kaufen …

Vielleicht geht Ihnen das auch so: Mit zunehmendem Alter und zunehmender Individualität nehmen auch die Gewohnheiten zu. Übelwollende Zeitgenossen sagen dazu „Macken“.  Man selbst allerdings definiert die „Macken“ euphemistisch als Zeichen einer gefestigten Persönlichkeit!

Ein ganz starker Charakterzug von meiner besten Freundin Renée ist, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, auch und gerade unter Gesichtspunkten wie Effizienz, Design, Bequemlichkeit…So ist es schon vorgekommen, daß sie in einem Autohaus neue Fußmatten für ihr durchaus noch tüchtiges Vehikel erstehen wollte - statt dessen aber mit einem Kaufvertrag über ein - immerhin gebrauchtes - moderneres solches zurückkam. Woran es lag? Nun, ihr hat die Automatik gefallen, sie fand die Rückfahrkamera praktisch, hielt silbergrau für pflegeleichter als schwarz und die Silhouette mega sportlich … Zugegeben, das konnte sie sich nicht so oft leisten, wer hat schon passende Sparverträge en masse zur Hand oder ist bereit, sie für ein Auto zu opfern? Wo doch das alte noch tut? Und Autofahren sowieso out ist? Na ja, auf dem Land nicht so ganz, da fährt der Bus halt bloß dreimal am Tag und zu demselben laufen ist auch schwierig mit vollen Einkaufstüten …

Wo war ich jetzt? Ah ja … kürzlich entdeckte ich bei mir eben auch so einen starken Charakterzug. Ich brauchte ein Würfelchen frische Hefe. Für mein Knoblauchbrot mit Zwiebeln und Oliven. Mein Lieblingsmensch empfahl, doch bitte einen Einkaufswagen zu nehmen (ich bitte Sie! für ein Würfelchen Hefe!!), und nötigte mir schließlich eine Einkaufstüte auf. Ein Kompromiß!

Was soll ich sagen? Man kam vorbei an einem Sonderangebot Tomaten (na klar: mal wieder Tomatensauce auf Vorrat kochen!), frischem Stangensellerie (ultimative Zutat für Caponata), einem Netz Saftorangen, zwei für eins! (es wird Herbst, die Erkältungszeit naht! Vitamin C muß her!! Orangen sind besser als Tabletten!!!), freilaufenden Eiern von glücklichen Hühnern (der Kaiserschmarrn für die Enkel), dazu fehlt noch die Preiselbeermarmelade, und Tante Frieda hat ja gesagt, Dinkelmehl sei besser als Weizen, probieren wir es doch dann mal aus, ach ja, der Balsamico rosato paßt doch wunderbar zum Feldsalat, wo steht nochmal das ergänzende Walnußöl …und die Walnüsse …

Die eine Tüte reichte nicht. Ich kaufte eine zweite.

Aber eigentlich wollte ich ja bloß Hefe kaufen …

G.S.2024 

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Brot und Tomaten …

Robert Musil sagte einmal sinngemäß, die einfachen, kleinen Dinge seien es, die wirklich glücklich machten. Nie die angesagten ultimativen Events. Also beispielsweise eine Mount-Everest-Besteigung, die Oscarverleihung oder wenigstens der Wiener Opernball.  Na ja,  keiner kann mir weismachen, daß man so ein Superereignis nicht mal gerne mitmachen würde. Wenn man könnte. Also über genügend Geld und einschlägige Beziehungen verfügte, wenn schon Begabung oder Schönheit nicht ausreichen! Dabeisein ist doch alles! Vielleicht ist ja ein Zeitgenosse neidisch? 

Aber irgendwie scheint die Teilnahme an diesen Superereignissen doch nicht so recht glücklich zu machen. Ich meine, die Leute, die da rumturnen, sind offenbar nicht besser dran als unsereins, der’s maximal bis auf den Säntis schafft oder Karten für eine Filmpremiere erwischt hat oder zum Faschingsball geht. Nur mal als Beispiel. Was nunmehr die Frage aufwirft, ob Musil nicht eben doch recht hatte: Die Sache mit den „kleinen Dingen“? 

Vielleicht macht ja doch ein gegrilltes Brot mit Tomaten in Knoblauch-Oregano-Öl glücklicher als Kaviar? Und: Vermutlich kommt es entscheidend darauf an, mit wem man beim Essen zusammensitzt! Wie immer im Leben …

G.S. 2014

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Sir Hugo und das Maß

Sir Hugo saß im Garten unter seinem Birnbaum. Ein Birnbaum ist spätestens seit dem Herrn Georg von Ribbeck aus dem Havelland und der Fontane’schen Ballade  Sinnbild fürs Schenken und Spenden. Deshalb liebte Sir Hugo Birnbäume. Und seinen ganz besonders: Er spendete süße Früchte und kühlen Schatten. Das richtige für diese heißen Sommertage. Vor sich hatte er sein iPad for Hares und neben sich ein Schälchen mit Birnenkompott. Aktuell studierte Sir Hugo die Philosophen. Er war nämlich der Ansicht,  bei ihnen finde man zeitlos gültige Einsichten.  Zum Beispiel bei Platon, der Maßhalten in allen Dingen empfahl. Sir Hugo fand den Gedanken so interessant, daß er sein iPad for Hares  aktivierte und seinem Vetter, Rodolfo of Bavaria, schrieb:

"Servus, Rudi, was hältst Du vom Maß halten?“

 (Sir Hugo schrieb ‚Maß halten’, gemäß der neuen deutschen Rechtschreibung).

Rudi chattete zurück: "Feine Sache, das! Habe beim letzten Oktoberfest vier gehalten. Nacheinander allerdings."

Sir Hugo war etwas irritiert. Führte das Mißverständnis auf seine Schreibweise zurück. Solchen Mißverständnissen begegnet man seit Einführung der neuen deutschen Rechtschreibung immer mal wieder. Bei einer Power-Point-Präsentation zum Thema „Vorbeugung gegen den Schlaganfall“ (für Hasen enorm wichtig: Sie sind einfach immer zu schnell) konnte man auf einer der ansonsten akkurat vorbereiteten Folien lesen: „Alkohol in Massen“ – der junge Referent hatte vermutlich das alte „Esszett“ aus seinem neuen deutschen  Alphabet gestrichen. Gesprochen hat er jedenfalls „Maßen“. So bemerkte kaum einer den syntaktischen und semantischen Widerspruch. 

Sir Hugo gab also „Maßhalten“ in Google ein und fand folgenden Satz von Paracelsus*) : „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht’s, daß ein Ding kein Gift sei.“ Was verkündete der Philosoph aus dem 16. Jahrhundert da? „Die Dosis macht’s“?

Na, das schien Sir Hugo doch mal eine uncoole Erkenntnis zu sein! Der aktuelle Zeitgeist jedenfalls atmete „Verbieten“, nicht „Maßhalten“: Die einen forderten ein Verbot von Genmöhren. Obwohl sie doch das Überleben der armen Verwandten in den trockenen Gebieten sicherten. Aber, dachte Sir Hugo, das betraf nun eben die Hasen. Vielleicht war es bei den Menschen ja anders? Wenn Sir Hugo wissen wollte, wie die Menschen tickten, schaute er eine Woche lang Fernsehen. Von „Wir klopfen dem Gemüsehändler auf die Pfoten“ bis „Finger weg vom Essen“.

Zusammenfassend kam heraus:

Fleisch und Wurst sind gestrichen, Fisch enthält zu viele Schwermetalle  wie beispielsweise Plutonium, Wein, Bier, Kaffee, und schwarzer Tee keinesfalls nach 17 Uhr, Alkohol bis 17 Uhr ist verboten, nach 17 Uhr höchst schädlich, Pasta, Weißbrot und geschälter Reis machen dick, Zucker und gesüßte Säfte führen zu Adipositas, Gemüse darf nur im Dampf gegart werden, Butter, Sahne und Eier erhöhen den Cholesterinspiegel, Brot, Brötchen und Brezeln enthalten zuviel Salz, Cola light zuviel Süßstoff, Äpfel sind gespritzt, Käse ist zu fett, Magerquark enthält zu viele Bindemittel, Ananas ist nicht im Fair Trade gehandelt, Erdnüsse kommen aus den USA, USA ist Trump-Land, No-Go, Erdnüsse sind infolge der Beweisführung nach der formalen Logik dann auch No-Go. Und, so stellte Sir Hugo fest, selbst beim Wasser schieden sich die Geister und argumentierten je nach Lust und Laune mit Plastikflaschenverpackung versus Keimbelastung durch Listerien und Amöben in schlecht gewarteten Wasserleitungen … 

Oha, dachte Sir Hugo, da sind aber ziemlich viele Netzte aufgespannt worden, in denen sich der geistig aufgeklärte Mensch verfangen kann. Es verhärtet sich der Verdacht, daß es gar nicht um Aufklärung geht …

Also schickte er seinem Vetter eine SMS-Botschaft: „Halte durch, alter Knabe, aber halte demnächst nicht so viele Maß an einem Abend! Halte Dich zurück! Die Dosis macht’s - auch beim Maß!“

 

*) Theophrastus Bombast von Hohenheim, *1493 in Egg/Schwyz, †1541 in Salzburg, war Alchemist, Arzt, Astrologe, Mystiker und Philosoph.

 

© Gerdi Scherer, Immenstaad  2019

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Beobachtungen

 Im Supermarkt (Lächeln, auch wenn’s weh tut!)

Autsch! Kannst du nicht aufpassen, du Lümmel!

Was erlauben Sie sich? Wie reden Sie mit meinem Sohn?

Na hören Sie mal! Er hat mir seinen kleinen Einkaufswagen in die Hacken geschoben. Das tut weh.

Noch lange kein Grund, meinen Sohn zu beschimpfen. - Kevin, kommst du mal bitte.

Oje, schaun Sie mal, das blutet sogar.

Nur ein Kratzer, halb so schlimm. Aber meinen Sohn zu diskriminieren, das geht gar nicht. Sie haben wohl was gegen Kinder? - Kevin, laß bitte die Eier liegen. Kevin, bitte nicht schon wieder!

Ich soll was gegen Kinder haben? Na hören Sie mal, ich habe selbst drei Jungen großgezogen.

Ach, wer weiß schon, mit welchem Ergebnis. - Kevin, stell bitte die Bierflasche zurück, Papa ist auf Entzug.

So können sie mit mir nicht reden. Ihr Sohn hat mich schließlich angefahren, und nicht ich ihn.

Das wäre ja noch schöner, meinen Kevin zu mißhandeln. So ein zartes Kerlchen mit einem riesen Wagen überfahren. Sie sind ja so was von aggressiv, und dazu noch gegen Kinder. - Kevin, kommst du mal bitte.

Aber davon kann doch gar keine Rede sein. Ich wollte doch nur zum Ausdruck bringen, …

Jetzt reicht es aber. Meinen kleinen Kevin mit ihrem großen vollen Einkaufswagen attackieren, das ist Körperverletzung pur. Das Kind kann sterben dabei. - Kevin, bleib weg von der Oma, die ist gefährlich.

Sie sind ja verrückt!

Das lass’ ich mir nicht bieten. Erst bedrohen Sie meinen Sohn, dann beleidigen Sie mich aufs Schlimmste. - Kevin, bitte nicht den Zucker auskippen. Das müssen die Männer alles wieder auffegen.

Oh, das ist mir nur so rausgerutscht. Ich wollte Sie nicht beleidigen. 

Haben Sie aber. Seien Sie froh, daß ich Sie nicht anzeige. Und jetzt reicht’s. Ich habe zu tun. - Kevin, kommst du mal bitte. NEIN, Kevin, NEIN! Nicht die unterste Dose!

RS

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# … aus Leidenschaft!

Ich will es vorwegnehmen: Ich habe absolut nichts gegen gute Laune.

Wirklich nicht! Optimistische Heiterkeit ist eine feine Sache, so sie zum Wesen des Menschen gehört oder einem besonderen Anlaß geschuldet ist. Zum Beispiel freut es mich, am Wasser zu sitzen und den Segelbooten zuzuschauen. Oder meine Frau mit einem Blumenstrauß zu überraschen. Natürlich auch, bei meinem Lieblingsitaliener ein gutes Glas Rotwein zu trinken. Da kann einem doch wirklich nichts die freudige Stimmung verderben. Schließlich ist man mit sich und der Welt im reinen.

Solch simple Glücksgefühle sind für Otto Normalverbraucher okay, für die kreativen Köpfe der Werbebranche aber ein NoGo. Und genau deshalb beschäftigt mich dieses Thema. Sprang mich doch kürzlich ein entfesselt aufgerissener Frauenmund mit einem perfekten Gebiß von einer Plakatwand geradezu an. Dieses affektierte, sterile Lifestyle-Girl mit den perlweißen Glitzerzähnen warb für einen "Zahnarzt aus Leidenschaft". Noch dazu für eine Praxis-Neueröffnung. Da kann man schon einmal ins Grübeln kommen. Wie ist das doch gleich gemeint? Will der Praxisgründer alles reparieren, was im Patientenmund nicht niet- und nagelfest ist? Ganz schnell seine Kredite bei der Bank einlösen? Oder will der junge Arzt einfach nur ausdrücken, daß er mit Leib und Seele seinem Beruf nachgeht? Ich jedenfalls werde es nicht erfahren, denn ich bleibe meinem erprobten Dentisten treu. 

Trotzdem frage ich mich als Zielobjekt der PR-Branche, ob Empathie-Attacken wie diese vielleicht nur kreativer Ausrutscher eines aufstrebenden Ein-Mann-Werbebetriebs  sind. Ich gebe also in Google "… aus Leidenschaft" ein - und bekomme schon auf den ersten 20 Seiten mehr als genug zum Stichwort geliefert: Pflege, Wirtin, Trödler, Züchter, Obstwirtschaft, Feuerwehrfrau, Dachdecker, Friseure, Autos, Qualitätsmilch, Försterin, Spießer, Rehmutter, Gewerkschaftshistoriker, Raumfahrt, Tierbetreuung, Fleischwaren - und alles "aus Leidenschaft!" Oder eben Begeisterung, Passion, Inbrunst, Besessenheit, voller Temperament und Wildheit!

Ein paar Berufsgruppen haben wir wohl noch vergessen: Der Chirurg aus Leidenschaft, der Kammerjäger, der Bestatter, der Schlachter. Ich hätte es fast vergessen: da steckt in unserem „Glücksbegriff“ auch noch das Wörtchen "Leiden"! Hier gibt es Klärungsbedarf!

RS 2016

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